Am 10.10.2025 fand zur Woche des Sehens eine ganz besondere Stadtführung statt. Die Vorpremiere und Premiere der Stadtführung „sehenden Auges blind durch die Stadt“. Dieses Projekt entstand in Zusammenarbeit von Xenia Busam (Märchenerzählerin), Gertraud Selig
(Inklusionsbeauftragte der Stadt Ludwigsburg) und Ralf Müller (Leiter der Bezirksgruppe Ludwigsburg des Blinden und Sehbehindertenverbands Württemberg e.V.). Es ging darum Menschen einmal einen perspektivischen Wechsel zu ermöglichen. Sehverlust oder gar Erblindung kann alle Menschen treffen. Betroffene Menschen haben Ängste ,Sorgen und treffen im Alltag all zu oft auf Barrieren. Uns war es wichtig den nicht betroffenen Menschen einmal etwas Einblick in das Leben von Betroffenen zu geben.Am Folgetag der beiden Führungen erreichte mich die sehr emotionale Email einer teilnehmenden Person, die mich sehr berührt hat.
Diese möchte Ich Ihnen gerne wiedergeben :

„Ich hatte schon viele Stadtführungen erlebt, aber diese war anders. Als ich mich an der Rathausgarage in Ludwigsburg einfand, war ich neugierig und ein wenig nervös. „Sehenden Auges blind durch die Stadt“ – was würde das bedeuten? Xenia Busam begrüßte uns mit ihrer lebendigen Art. Sie sprach von Seifenblasen, in denen wir uns bewegen würden – behutsam, achtsam, geführt von einem Partner. Ich bekam eine Augenmaske und wurde von meiner führenden Person am Arm genommen. Plötzlich war alles dunkel. Ich hörte Schritte, Stimmen, spürte den Wind – aber sah nichts. Ich musste vertrauen. Und das war gar nicht so leicht.
Am Gebäude der Filmakademie ertastete ich eine Backsteinwand. In meiner anderen Hand lag ein Gegenstand, den ich erraten sollte. Ich fühlte mich wie ein Kind, das die Welt neu entdeckt. Xenia erzählte von Soldatenhandel und einem Herzog, der Backstein wertvoller fand als Diamanten. Ihre Worte malten Bilder in meinem Kopf, obwohl ich nichts sehen konnte.
Später standen wir auf dem Marktplatz. Ich durfte die Maske abnehmen – und war geblendet. Alles war plötzlich zu hell, zu laut, zu viel. Meine Führperson übernahm nun die Rolle der Blinden, und ich führte sie. Ich spürte ihre Unsicherheit, ihre Zurückhaltung. Es war ein Wechselspiel aus Vertrauen und Verantwortung.
Besonders eindrucksvoll war der Besuch bei Nähmaschinen Wagner. Der Duft von Stoffen lag in der Luft, ich ertastete Satin und Seide. Xenia erzählte von Ludwigsburgs Versuch, Seide zu produzieren – und von den Maulbeerbäumen, die heute noch davon zeugen.
In der Stadtkirche ertönte Orgelmusik, als wir eintraten. Es war, als würde die Stadt selbst mitspielen. Zum Abschluss gab es Naschwerk am Marktbrunnen und eine Geschichte über die Venezianische Messe – sinnlich, verspielt, poetisch.
Als ich die Augenmaske endgültig abgab, war ich bewegt. Ich hatte nicht nur Ludwigsburg neu erlebt, sondern auch einen kleinen Einblick in das Leben ohne Sehsinn bekommen. Es war faszinierend – und erschreckend zugleich. Ich habe gelernt, wie wichtig Vertrauen, Kommunikation und Mitgefühl sind. Und dass wir nur gemeinsam gut durch diese Welt kommen. Bedanken möchte ich mich auch für die Informationen, die wir von Ralf Müller erhielten."

Vielen Dank für diesen sehr emotionalen Perspektivwechsel der teilnehmenden Person. Wenn Sie oder andere Personen, Angehörige oder betroffenen Menschen Informationen oder Beratung benötigen, melden Sie sich gerne bei uns.
„Wir nehmen uns Zeit für Sie“ und eine starke Gemeinschaft von Betroffenen hilft Ihnen gerne weiter.

Herzliche Grüße
Ralf Müller