Geschichte des Verbandes
Am 27. Juni 1909 wurde in Stuttgart der Württembergische Blindenverein e.V. (WBV) - jetzt Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg e.V. - ins Leben gerufen. Der Jurastudent Rudolf Kraemer aus Heilbronn hatte zur Gründungsversammlung eingeladen. Von 63 Vereinsmitgliedern nahmen 38 an der Gründungsversammlung im Hotel „Herzog Christoph“ in Stuttgart teil.
Anlässlich der Gründung des Vereins wies Rudolf Kraemer auf die Notwendigkeit einer Selbsthilfeorganisation der Blinden in Württemberg hin. Er zeigte weiterhin klar Zweck und Ziele des Vereins auf: „Blinde sollen für Blinde tätig sein“. Blinde Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, wurden zu diesem Zeitpunkt als „Ordentliche Mitglieder“ aufgenommen.
Der Gründungsversammlung wurden zwei Anträge zur Beschlussfassung vorgelegt:
- König Wilhelm von Württemberg wird angefragt, ob er das Protektorat für den Verein übernehmen wird.
- Der Verein verleiht die Ehrenmitgliedschaft an die taubblinde Schriftstellerin Helen Keller (USA).
König Wilhelm antwortete freundlich auf das an ihn gerichtete Huldigungstelegramm, lehnte aber die Übernahme des Protektorats mit der Begründung ab, dass erst eine gewisse Entwicklungs- und Bewährungszeit des jungen Vereins abgewartet werden müsse.
Miss Helen Keller antwortete zustimmend, indem sie den Vorsitzenden bat, den Mitgliedern des WBV ihren besten Dank für die ihre zugedachte Ehrung zu übermitteln.
„Hilfe zur Selbsthilfe“
Der Gedanke der Selbsthilfe stand von Beginn an im Mittelpunkt der Vereinsarbeit. Der Verein gründete nach und nach Orts- und Bezirksgruppen, deren vorrangige Aufgabe die kulturelle Betreuung der Mitglieder war.
Die erste Bezirksgruppe gründete sich im Oktober 1909 in Heilbronn. Zwei weitere Gruppen, Stuttgart und Ulm, wurden im Februar 1910 ins Leben gerufen. Zwei Jahre später folgte die Bezirksgruppe Reutlingen, aus der in den 20er Jahren die Gruppen Tübingen und Nürtingen hervorgingen. Esslingen, Freudenstadt und weitere folgten nach.
Im Jahre 1915 wurde die Blindengenossenschaft in Heilbronn gegründet. Gemäß seiner Aufgaben hatte sich der WBV hieran maßgeblich beteiligt. Durch sie erhielten blinde Handwerker eine Einrichtung, die ihnen Arbeit bot und den Vertrieb der Waren organisierte.
Durch die Übernahme und Einrichtung des Erholungsheimes „Sonnenheim“ in Rohr bei Stuttgart schuf der WBV die Voraussetzung der Erholungsmöglichkeiten für blinde Menschen sowie deren Begleitpersonen. Die Einweihung erfolgte am 12. Mai 1918. Der Verein musste 57.000 Mark in bar für den Kauf aufbringen. Trotz der bewusst niedrig gehaltenen Pensionspreise, die hier dem Blinden und seiner Begleitung berechnet wurden, war der Verein bemüht, seinen mittellosen und unvermögenden Mitgliedern - und diese waren bald die überwältigende Mehrzahl - sogar einen kostenlosen Erholungsaufenthalt in seinem Heim zu gewähren.
Die Zeit des Nationalsozialismus war für die Entwicklung des Blindenwesens in Deutschland und somit auch in Württemberg außerordentlich problematisch. Einzelne blinde Menschen wurden zu Opfern des „Gesetzes über die Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Nicht selten wurden Blinde aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch Zwangssterilisation an Körper und Seele geschädigt. Rudolf Kraemer, der mittlerweile sein Studium abgeschlossen und zweimal promoviert hatte, befasste sich in seinen Veröffentlichungen kritisch mit diesen menschenverachtenden Praktiken.
Die Mitgliederzahl des WBV war im Jahre 1939 bereits auf über 900 gestiegen.
Für den WBV und die mit ihm eng verflochtene Blindengenossenschaft in Heilbronn war 1944 ein schicksalsreiches Jahr. Am 15. März wurde das Blindenerholungsheim in Stuttgart-Rohr von Bomben getroffen und brannte bis auf die Grundmauern nieder. In gleicher Weise wurde in Heilbronn am 10. September das Werkstättengebäude der Blindengenossenschaft sowie am 4. Dezember deren Büro- und Lagergebäude mit dem gesamten Inventar und Warenlager durch Kriegseinwirkungen zerstört. 17 unserer Mitglieder verloren bei jenem letztgenannten Angriff auf Heilbronn ihr Leben.
Am Ende des zweiten Weltkrieges standen der WBV und die Blindengenossenschaft Heilbronn buchstäblich vor dem Nichts. Ein unerbittliches Schicksal hatte beide Organisationen unserer Blindenselbsthilfe in Württemberg auf ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen.
Nach 1945 wurde der WBV, bedingt durch die Aufteilung der Länder in Besatzungszonen (Württemberg-Baden und Südwürttemberg- Hohenzollern), in zwei Vereine gespalten. Der Wille zur Einigkeit und Geschlossenheit im Interesse einer gemeinsamen organisierten Blindenselbsthilfe war jedoch stets bei den Mitgliedern beider politisch getrennten Zonen lebendig geblieben. Der WBV ging daran, das Blindenerholungsheim in Stuttgart-Rohr wieder aufzubauen. Dieses wurde 1955 um einen Anbau erweitert.
Ein herausragendes Ereignis für den WBV war die Konstituierung des „Deutschen Blindenverbandes“ in Stuttgart (jetzt Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband) durch die Spitzenorganisationen der Zivilblinden-Selbsthilfe im deutschen Bundesgebiet.
Die Schwerpunktarbeit des WBV in den 50er Jahren waren die Bemühungen um das allgemeine Blindengeld und die Einrichtung der Blindenhörbücherei in Stuttgart. Darüber hinaus entstand, in Zusammenarbeit mit der Nikolauspflege Stuttgart, am Kräherwald ein Wohnheim für berufstätige Blinde, dessen Kosten von beiden Institutionen je zur Hälfte getragen wurden. Zur Gründung der Süddeutschen Blindenhörbücherei hatte der damalige Vorsitzende, Herr Karl Wohlgemuth, die Initiative ergriffen. Unter seiner Leitung traten die Vertreter der Kriegs- und Zivilblinden mit Vertretern der Blindenbildungseinrichtungen in Baden-Württemberg zusammen. Man fasste einstimmig den Beschluss, die Süddeutsche Blindenhörbücherei e.V. in Stuttgart zu gründen, was 1957 erfolgte.
Die drei Landesblindenvereine in Baden-Württemberg gründeten eine Arbeitsgemeinschaft um die Interessen blinder Menschen zu vertreten. Gemeinsam haben sie Verhandlungen aufgenommen, deren Zielsetzung eine Blindengeldregelung für Baden-Württemberg, ähnlich der im benachbarten Bayern, war. Nach jahrelangen schwierigen Gesprächen war ein für die Beteiligten gutes Ergebnis erreicht. Zwei Erlasse des Innenministeriums aus den Jahren 1958 und 1959 gestanden blinden Menschen einen Mehrbedarf in Höhe von DM 30,00 zu. Trotz dieser Regelung war die Blindenselbsthilfe in Baden-Württemberg weiter bestrebt, ein Landesblindengeld zu erreichen.
Im Februar 1972 war es dann endlich erreicht: Der Landtag von Baden-Württemberg verabschiedete das Gesetz über die Landesblindenhilfe. Danach erhalten blinde Menschen zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen und Benachteiligungen Landesblindenhilfe.
Die große Gemeindereform in Baden-Württemberg zu Beginn der 70er Jahre veranlasste den WBV, sich neu zu strukturieren. Aus den bislang bestehenden 16 Bezirksgruppen wurden 25, die sich im Wesentlichen an den Stadt- und Landkreisen orientieren.
Bestrebungen zu Beginn der 1970er Jahre, die drei Blindenvereine der Zivilblinden in Baden-Württemberg zusammenzuschließen, zeigten keinen Erfolg. Durch die Gemeindereform entstand eine Diskussion über die neue Namensgebung des Vereins. Die Umbenennung in „Blindenverband Ost-Baden-Württemberg e.V.“ wurde 1976 beschlossen.
Im Hinblick auf die Haushaltssituation des Landes Baden-Württemberg sollte im Jahre 1996 das Landesblindengeldgesetz im Rahmen des Haushaltsstrukturgesetzes aufgehoben werden. Dies hätte für blinde Menschen in Baden-Württemberg eine große Härte bedeutet. Die gemeinsamen Bemühungen der Blindenselbsthilfeorganisationen in unserem Bundesland, zusammen mit den konfessionellen Blinden- und Sehbehindertenorganisationen, konnten dies verhindern. Ein nicht unwesentlicher Einschnitt musste allerdings hingenommen werden. Die Landesblindenhilfe wurde gekürzt und ist seit diesem Tage bis heute eingefroren.
1968 eröffnete der WBV in Bad Liebenzell sein nach dem Vereinsgründer, Rudolf Kraemer, benanntes Blindenkur- und -erholungsheim. Das Haus hatte 72 Betten in modern ausgestatteten Zimmern.
Bereits 1974 wurde erkannt, dass zur Verbesserung der Mobilität und Orientierungsfähigkeit blinder Menschen ein Mobilitätstraining sehr wichtig ist. Daher wurde beschlossen, dem Haus in Bad Liebenzell ein Mobilitätszentrum anzugliedern, um blinden Menschen zu einer weitgehenden Selbständigkeit im Straßenverkehr zu verhelfen.
Nach Eröffnung des Rudolf-Kraemer-Heims wurde das Haus in Stuttgart-Rohr als Blindenaltenheim weitergeführt. Das steigende Alter der Bewohner und die damit einhergehenden Gebrechlichkeiten machten es erforderlich, das Haus den Vorschriften gemäß mit Sanitärzellen auszustatten sowie sechs Pflegeplätze einzurichten. Diese Maßnahmen waren 1985 abgeschlossen. Der Bedarf an Pflegeplätzen stieg jedoch weiter an. Trotz intensiver Bemühungen war der Verband aufgrund hoher Auflagen und dadurch steigender Personalkosten in der Folgezeit nicht mehr in der Lage, das für viele Blinde im Großraum Stuttgart zur neuen Heimat gewordene Altenheim zu erhalten. Es musste daher im Jahre 1996 geschlossen werden.
Um den Personenkreis der sehbehinderten Menschen besser ansprechen und in die Arbeit einbeziehen zu können, hat der Verband seinen Namen in der Delegiertenversammlung des Jahres 2000 in Blinden- und Sehbehindertenverband Ost-Baden-Württemberg e.V. geändert.
Die im Jahr 1957 gegründete Blindenhör- und Punktschriftbücherei musste 2004 aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen werden.
Da die Belegungszahlen des Rudolf-Kraemer-Hauses seit dem Jahr 2003 ständig rückläufig waren, beschloss die Delegiertenversammlung am 13. September 2008 die Schließung des Hauses, da ein Weiterbetrieb nicht mehr vertretbare Kosten verursachen würde. Der Betrieb des Rudolf-Kraemer-Haus wurde am 30. November 2008 eingestellt.
Am 20. Juni 2009 wurde das 100jährige Bestehen des Verbandes im Forum am Schloss in Ludwigsburg gefeiert. Hierzu wurden folgende Grußworte in der Festschrift veröffentlicht:
- Annemarie Griesinger
(Sozialministerin a. D. des Landes Baden-Württemberg) - Eva Luise Köhler
(Gattin des damaligen Bundespräsidenten) - Günther H. Oettinger
(damaliger Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg) - Dr. Monika Stolz
(damalige Sozialministerin des Landes Baden-Württemberg)
In Absprache mit den beiden DBSV-Landesvereinen in Baden und dem Wunsch der Delegiertenversammlung entsprechend, nannte sich der Verband 2010 erneut um. In Anlehnung an die Wurzeln des Verbandes beschloss die Delegiertenversammlung als Namen Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg e.V.
2013 hat sich der BSV Württemberg dem neu entwickelten Beratungsangebot des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes „Blickpunkt Auge“ angeschlossen. Zwischenzeitlich unterhält der Verein 5 Blickpunkt Auge Beratungsstellen.